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Digitale Medien, Partizipation und Aktivismus

Dr. Ricarda Drüeke

/ 12 Minuten zu lesen

#LetzteGeneration, #Mahsaamini, #MeToo, #OscarsSoWhite oder #BlackLivesMatter – diese Hashtags sind allgegenwärtig und die sie begleitenden Proteste werden auf verschiedenen Plattformen, in verschiedenen Medien und auf der Straße sichtbar. Sie fordern eine nachhaltigere Klimapolitik, prangern das Unrechtssystem im Iran an und setzen sich für mehr Rechte für Frauen* ein, thematisieren sexualisierte Gewalt an Frauen*, weisen auf rassistische Strukturen in Hollywood hin oder wehren sich gegen Polizeigewalt an BIPoC-Personen. Nicht erst mit der zunehmenden Digitalisierung zeigt sich, dass Medien eine zentrale Rolle in Protesten einnehmen können.

Illustration: www.leitwerk.com

Medien und Teilhabe

Medien sind zentral, um Sichtbarkeit für politische Anliegen und Proteste herzustellen. Traditionelle Medien wie Zeitungen und Fernsehen berichten etwa über Demonstrationen oder politische Aktionen. Aktivist*innen können selbst ihre Positionen über Medien veröffentlichen, seien es Flugblätter, Zines (selbst erstellte und produzierte Magazine) oder eben digitale Plattformen. Medien können Mittel des Protests sein, wenn sie der Information und Mobilisierung durch Aufrufe dienen, können aber auch Ort des Protests sein, etwa durch E-Petitionen und Hashtag-Aktivismus. Nicht selten sind dabei Online- und Offline-Proteste verzahnt und bedingen sich gegenseitig. Orte und Räume des Protests wandeln sich mit veränderten technologischen Möglichkeiten und Protestartikulationen finden verschiedene mediale Ausdrucksformen. Zugleich verändern sich die Medienrepertoires von Protestbewegungen und Aktivist*innen.

Frauen* und BIPoC

Frauen*

Mit dem * wird ausgedrückt, dass „Frauen“ eine Kategorie darstellt, die sich durch fortlaufende Zuschreibungsprozesse verfestigt. Das * soll eine Offenheit ausdrücken auch für jene Frauen, die im gesellschaftlich vorherrschenden System heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit vielfach nicht als Frauen anerkannt werden. Zudem werden darunter auch Personen gefasst, die sich nicht als Frauen verstehen, aber als solche adressiert und hierarchisiert werden.

BIPoc

Die Abkürzung „BIPoC“ ist ein Begriff, der sich auf Schwarze, Indigene und People of Color bezieht.

Ziel des Beitrags ist es, einen systematisierenden Blick auf Partizipation und verschiedene Formen von Aktivismus unter Berücksichtigung der Veränderungen durch digitale Medien zu werfen. Aktivismus und Partizipation werden in diesem Beitrag aus Perspektive eines weiten Politikbegriffs betrachtet, d. h. vielfältige Formen, Foren und Akteur*innen werden einbezogen und nicht nur Formen repräsentativer und institutionalisierter Partizipation, etwa über Wahlen, Parlamente und offizielle Verfahren der Bürger*innenbeteiligung, in den Blick genommen. Getragen wird Protest sowohl von individuellen als auch kollektiven Akteur*innen, die nicht notwendigerweise institutionell gebunden sind. Sie eint, dass sie Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringen und gesellschaftliche oder politische Anliegen formulieren wollen. Partizipation meint v.a. politische Beteiligung. Organisierte Formen von Protest finden sich vor allem in sozialen Bewegungen, die dauerhafte Zusammenschlüsse darstellen und Missstände in der Gesellschaft anprangern oder auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen wollen. Unter den in diesem Beitrag verwendeten Begriff der digitalen Medien werden sowohl verschiedene Plattformen, Nutzungsformen als auch die durch sie ermöglichten dezentralisierten und vernetzten Kommunikationsformen verstanden.

Ausgehend von der Annahme, dass digitale Medien eine, wenn nicht die, entscheidende Rolle in gegenwärtigen Protesten spielen, wird in diesem Beitragzunächst die Entwicklung politischer Beteiligung durch das Internet nachgezeichnet. Diese Einordnung zeigt die Kontinuität von bestimmten Formen von Protest auf. Gleichzeitig wird so deutlich, dass weitere Formen hinzukommen und verstärkt die Herausforderungen durch digitale Medien deutlich werden. Daran anschließend werden gegenwärtige Formen von Aktivismus und Partizipation anhand von verschiedenen Ebenen der Partizipation sowie der sich wandelnden Protestpraktiken dargestellt. Mit einem kurzen Fazit schließt der Beitrag.

Entwicklung politischer Beteiligung

Die Formen der politischen Partizipation und von Aktivismus haben sich mit der Digitalisierung gesellschaftlicher und sozialer Lebensbereiche verändert. Die Entwicklung wird im Folgenden anhand einiger Eckpunkte nachgezeichnet, wobei diese nicht linear verläuft, sondern einzelne Prozesse ineinander übergehen und verschiedene Konjunkturen erkennbar sind. Die folgende Darstellung lehnt sich an die Phaseneinteilung von Aaron Delwiche und Jennifer Henderson an und ergänzt diese um weitere Beobachtungen sowie Entwicklungstendenzen. Demnach können fünf Phasen unterschieden werden:

  1. In der ersten Phase (1985-1993) stehen vor allem virtuelle Communities im Fokus, die sich über Dienste wie etwa Usenet oder MUDs (multi-user dungeons) bilden und ein gemeinsames gesellschaftliches Ziel verfolgen.

  2. In der zweiten Phase (1994-1998) werden die Transformationen durch Netzwerke herausgearbeitet und es wird betrachtet, wie politische Teilhabe in einer „decentralized network society“ (Dt.: dezentralisierte Netzwerkgesellschaft), funktioniert. Studien zu aktivistischer Zine-Kultur und Computerspielen stellen den zentralen und partizipativen Charakter von bislang als unpolitisch eingeschätzten kulturellen Ausdrucksformen heraus.

  3. Die dritte Phase (1999-2004) kennzeichnet sich durch die Vereinfachung der Veröffentlichung von Inhalten durch Online-Plattformen. Durch Plattformen wie LiveJournal, Napster, MySpace, Flickr oder Facebook eröffnen sich einfache Zugänge zur Veröffentlichung von Inhalten. Im Vergleich zur früheren eher statischen Nutzung des Internets durch Homepages und Kommunikationsformen wie Mailinglisten zeigen sich hier weitere Formen des Austauschs, der Mobilisierung und der Partizipation. Gegenöffentlichkeiten für marginalisierte Gruppen und Protest-Akteur*innen scheinen möglich, in denen weitere Positionen zu hegemonialen Öffentlichkeiten bereitgestellt werden können.

  4. In der vierten Phase der „ubiquitous connections“ (Dt.: allgegenwärtigen Verknüpfungen) (2005-2011) werden die Medienkonvergenz und die Allgegenwärtigkeit digitaler Medien betont. danah boyd bezeichnet die so entstehenden Öffentlichkeiten als „networked publics“ (Dt.: vernetzte Öffentlichkeiten), bestehend aus Räumen und Gruppen, die durch technologische Netzwerke miteinander verbunden sind. Weit verbreitete Netzwerke ermöglichen Partizipation über Plattformen und Anwendungen hinweg.

  5. Seit 2011 – die fünfte Phase – rücken einzelne Plattformen und die daraus resultierenden Protestformen in den Fokus. Damit ist auch der Begriff des Hashtag-Aktivismus verbunden (etwa Hashtags gegen sexualisierte Gewalt wie #aufschrei in Deutschland und #metoo im englischsprachigen Raum). Die damit einhergehenden Proteste verdichten sich meist um ein bestimmtes Thema oder Ereignis. Die technischen Möglichkeiten, das Zusammenwachsen von verschiedenen Plattformen und die Verzahnung von kommerziellen und nicht-kommerziellen Angeboten verändern auch die Formen der Partizipation. Dies zeigen neue Protestformen des Klick-Aktivismus, Kampagnen-Aktivismus, Hacktivismus und Tech-Aktivismus, auf die im Folgenden noch genauer eingegangen wird. In dieser Phase findet auch eine verstärkte Auseinandersetzung mit Hate Speech und sogenannter „Dark Participation“ (Dt.: Dunkle Partizipation) durch rechte Protest-Akteur*innen statt. Auch die Nutzung verändert sich, wenn etwa durch das sogenannte „Deplatforming“, also die Verbannung von Personen oder Gruppen von bestimmten Plattformen sowie das Löschen von Inhalten, bestimmte Plattformen nicht mehr genutzt werden können und andere Anwendungen, die weniger strikt in der Regulierung von Inhalten sind, hinzukommen. Gerade im Kontext der Corona-Protestbewegung wurde dadurch die Nutzung alternativer Plattformen wie dem Messenger-Dienst Telegram befördert.

17. September 2020: In New York wird der 9. Geburtstag der „Occupy Wall Street“-Bewegung begangen. Im Jahr 2011 begann die Bewegung mit einem Aufruf im Internet und dem Hashtag #OccupyWallStreet. Mit einer Besetzung des Zuccotti Parks forderten die Aktivist/-innen u.a. eine stärkere Kontrolle des Banken- und Finanzsektors und die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit. (© picture-alliance, zumapress.com | Milo Hess)

In diesen fünf Phasen zeigen sich durchaus gegenläufige Entwicklungen. Die anfängliche Euphorie und die damit verbundene Hoffnung auf eine Demokratisierung der Gesellschaft, ausgelöst durch eng verbundene virtuelle Gemeinschaften, über die Vereinfachung der Veröffentlichungen von Positionen und Meinungen hin zu plattformübergreifender Vernetzung durch Hashtags, sind einer genaueren Analyse gewichen, die auch die Herausforderungen und gegenläufigen exkludierenden Tendenzen von Beteiligung mittels digitaler Medien einbezieht.

Gegenwärtige Formen von Aktivismus und Partizipation

In diesem Abschnitt werden anhand der Partizipationspyramide die verschiedenen Formen von Beteiligung systematisiert und so herausstellt, welche Formen von Aktivismus und Partizipation gegenwärtig bestimmend sind. Diese Formen von Beteiligung und Protest werden unter dem Begriff Handlungsrepertoires gefasst. Damit ist gemeint, dass Personen und/oder Gruppen verschiedene Möglichkeiten bereitstehen, deren Nutzung zu individuellen oder kollektiven Repertoires führen, die über Protesthandlugen bestimmen. Die Partizipationspyramide umfasst dementsprechend: (1) die Unterscheidung verschiedener Ebenen von Partizipation und (2) die Protestpraktiken, die sich durch die Verzahnung von Online- und Offline-Räumen, die Flüchtigkeit von Protest sowie die Zunahme individualisierter Handlungsrepertoires kennzeichnen.

Ebenen der Partizipation

Die im Folgenden dargestellten Ebenen der Partizipation bilden die unterschiedlichen Grade der Beteiligung ab, die sich in ihrem Ausmaß und ihrer Beständigkeit voneinander unterscheiden. In Anlehnung an Sigrid Baringhorst wird dies mittels einer Partizipationspyramide dargestellt, die auch die sich wandelnden Protestformen – von individualisierten über kollektive hin zu vernetzten Formen des Protestes – umfasst (Abbildung 1).

  • Informieren durch Lesen, Zuhören, Bilder Anschauen ist die einfachste und verbreitetste Form der Beteiligung, weil sie keine aktive Handlung erfordert. Darunter fällt auch das sogenannte Lurking, also die passive Teilnahme insbesondere in Foren, Mailinglisten oder News-Groups.

  • Klicken, Liken und E-Petitionen Unterzeichnen bilden die zweite Ebene. Diese Ebene umfasst niedrigschwellige politische Beteiligungsformen wie die Unterzeichnung von Online-Petitionen oder Klicktivismus, wie das Teilen und Liken von Online-Inhalten. Damit zusammenhängende Formen der Partizipation sind Slacktivismus und performativer Aktivismus. Slacktivismus stellt eine oberflächliche Art der Beteiligung dar, wenn über digitale Plattformen wie Facebook und Twitter etwa Aufrufe zu Demonstrationen geteilt werden. Eine (virtuelle) Zusage der Nutzer*innen bedeutet jedoch nicht, dass sie auch tatsächlich an der Demonstration teilnehmen werden. Performativer Aktivismus zeigt sich etwa bei Unterstützungsbekundungen mittels Regenbogenflaggen oder Bannern wie „leave no one behind“ auf Facebook-Profilen, wo die Akteur*innen zwar Teil der jeweiligen Protestbewegung sein können, aber eben auch größtenteils nur temporär Unterstützung ausdrücken. Solche Aktionen haben dann oft keine direkten politischen Konsequenzen und die Zunahme an solch niedrigschwelligen Angeboten wie Klicken, Teilen, Liken kann Protest schwächen, da von einer eher passiven Nutzung digitaler Medien ausgegangen wird.

  • Weiterleiten und Unterstützung Ausdrücken – die dritte Ebene – umfasst retweeten von politischen Inhalten oder Solidaritätsbekundungen, wie etwa beim #BlackOutTuesday, bei dem v. a. über Instagram Nutzer*innen schwarze Bilder posteten, um ihre Solidarität mit der Bewegung BlackLivesMatter auszudrücken. Digitale Medien unterstützen dann flüchtige und temporäre Protestformen. Donatella della Porta hat für solche Aktionsformen den Begriff der „tolerant identities“ (Dt.: tolerante Identitäten) geprägt, d.h. Aktivist*innen versammeln sich in eher losen Zusammenhängen und verfügen über keine homogene Ideologie.

  • Die weitere Ebene – Netzwerken & aktiv Beteiligen – zeigt hingegen interaktive Protestformen und veränderte Bedingungen der Veröffentlichung von Inhalten auf. Dies schließt etwa sogenannten Hashtag-Aktivismus ein, d.h. die aktive Nutzung eines Hashtags, um Unterstützung für ein bestimmtes Anliegen auszudrücken, sowie das Kommentieren vorhandener Beiträge. Durch die aktive Nutzung eines Hashtags entsteht ein gemeinsames Netzwerk für ein politisches Anliegen. Dadurch handeln die Aktivist*innen gemeinsam, auch wenn sich der Zusammenhalt zwischen den Akteur*innen für gemeinsames Protesthandeln hier weniger durch „collective action“ (Dt.: kollektives Handeln) als vielmehr durch „connective action“ kennzeichnet, also verbindende Handlungen Einzelner oder durch Unterstützung von Organisationen.

  • Auf der Ebene Produsage und kollektives Handeln werden eigene Inhalte produziert und Proteste aktiv mitgestaltet. Dadurch können auch längerfristige Bindungen zwischen den Akteur*innen entstehen sowie sich durch kollektive Handlungen Protestbewegungen bilden. Axel Bruns spricht von „Produsage“ – einer Wortkombination aus Production und Usage – Nutzer*innen sind also zugleich auch Produzent*innen. Die aktive Nutzung von Plattformen wie Instagram, TikTok, und X (Twitter) spielt häufig eine große Rolle bei der Mobilisierung von Protest, sie können den Ort des Protests darstellen und dienen der Verbreitung von politischen Meinungen und Themen.

Protestpraktiken im Wandel: Digitalisierung von Handlungsrepertoires

Durch die Digitalisierung von Handlungsrepertoires verändern sich auch die Protestpraktiken. Ausgehend von dem Handeln der Akteur*innen werden im Folgenden drei Praktiken herausgegriffen, die die Verzahnung von Online- und Offline-Protestpraktiken, die Flüchtigkeit von Protest sowie die Zunahme individualisierter Handlungsrepertoires umfassen. Verzahnung online - offline: Handlungsrepertoires von Protest-Akteur*innen verändern sich, sind jedoch nicht in Online- und Offline-Proteste zu teilen, denn die verschiedenen Formen verzahnen sich und werden in unterschiedlicher Zusammensetzung kombiniert sowie verwendet. Auch der Grad der Beteiligung verschiedener Akteur*innen ist unterschiedlich. Nach Baringhorst lässt sich unterscheiden zwischen internetgestützten, d.h. solchen Beteiligungsformen, die digitale Medien als zusätzlichen Kanal nutzen aber vor allem offline stattfinden, und internetbasierten Handlungsrepertoires, d.h. solchen, die sich im Internet formieren und vor allem digitale Medien nutzen, um auf Protest-Anliegen aufmerksam zu machen. Diese Beteiligungsformen können schnelle und zugangsoffene Teilhabe ermöglichen, also niedrigschwellig sein, oder nur einem bestimmten Teilnehmer*innen-Kreis offenstehen, sei es durch technische Barrieren oder durch eine enge thematische Ausrichtung, also eher hochschwellig sein. Um die Medienrepertoires, die zur politischen Kommunikation und Teilhabe zur Verfügung stehen und kombiniert werden über einen zeitlichen Verlauf zu erfassen, hat Villioth drei Protesttypen unterschieden: Web 1.0, Web 2.0 und Prosumer*in. Dies macht deutlich, wie sich der Mediengebrauch unterscheidet und wie intensiv die Nutzer*innen das Netz in ihre Partizipation einbinden.

Flüchtigkeit von Protest: Medienaktivismus und Protest über digitale Medien erscheinen weniger strukturiert als es früher bei sozialen Bewegungen der Fall war; zumeist sind aber weniger von dauerhaftem Charakter. Beispielsweise stellte die kapitalismuskritische Occupy-Bewegung zwar eine kollektive Aktionsform dar, sie gründete sich aber vor allem auf individuelle Handlungen und Gruppenaktivitäten, die digital vernetzte Medien als eine bestimmte Medienstrategie einsetzen, um Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zu erzielen. Der Ort „Wallstreet“ als Ausgangspunkt der Proteste erhielt einen symbolhaften Charakter und Bezugnahmen darauf waren mittels digitaler Medien sowohl lokal als auch global möglich. Lisa Steiner und Stine Eckert benennen solche Bündnisse als „fluid public clusters“ (Dt.: flüchtige öffentliche Cluster), um die Dynamik der Räume und Akteur*innen zu betonen. Solche Proteste verdichten sich häufig um ein bestimmtes Thema oder Ereignis, womit für dieses Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit hergestellt wird. Darin zeigen sich temporäre Allianzen und Bündnisse, die ein gemeinsames Anliegen vor allem über digital Medien teilen. Die Nutzer*innen bedienen sich variierender Aktionsformen, ein gemeinsames Ziel gibt es oft nur temporär und nicht über einen längeren Zeitraum. Hinzu kommt, dass technische Infrastrukturen über Spezifikationen, Funktionalitäten und Algorithmen zugleich Formen von individuellem und kollektivem Handeln prägen und eben solche kurzfristigen und temporären Beteiligungsformen fördern.

Individualisierte Handlungsrepertoires: Der Wandel kennzeichnet sich ebenfalls dadurch, dass früher Proteste zumeist durch ein gemeinsames Thema, wie etwa Umweltschutz oder Forderung nach Gleichstellung von Frauen*, verbunden waren, während heutzutage die Beweggründe individualisierter sind. Diese Formen ersetzen nicht formale kollektive Akteur*innen und Bewegungen, sondern erweitern die Proteste um weniger organisierte Akteur*innen sowie spontane virale Netzwerke.

Herausforderungen durch die Digitalisierung von Protest

Die gegenwärtigen theoretischen wie auch praktischen gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich bei der Betrachtung von digitalen Medien, Partizipation und Aktivismus zeigen, lassen sich zu vier Problemfeldern verdichten:

  1. Der bewegungsinterne Zusammenhalt und die Verständigung über gemeinsame Inhalte und Ziele ist bei gegenwärtigen Protestbewegungen weniger eine feste Übereinkunft wie bei früheren sozialen Bewegungen, sondern vielmehr prozessual und relational.

  2. Kollektive Identitäten, die lange Zeit als wichtig für eine Protestbewegung angesehen wurden, werden durch flexible Aneignungsweisen und temporäre Allianzen vor allem bedingt durch die technischen Möglichkeiten digitaler Medien ersetzt.

  3. Aktivistische Praktiken und Protestformen verändern sich, sie werden zunehmend spontaner und fluider.

  4. Über gegenwärtige Formen von Aktivismus bestimmen auch Kommunikationslogiken sowie kapitalistische und ökonomische Rahmenbedingungen der Plattformen.

Eine weitere gesamtgesellschaftliche Herausforderung stellt dar, dass Partizipation und Aktivismus mittels digitaler Medien auch demokratiegefährdend sein können. Nicht nur werden durch Hate Speech Personen angegriffen, die öffentlich für bestimmte Themen wie Antirassismus oder Queer-Feminismus einstehen, auch lässt sich in den letzten Jahren ein Erstarken populistischer und rechter Protestbewegungen konstatieren, die nicht zuletzt im Zuge der Pandemie Aufschwung erfahren haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Begriff „digital vernetzte Medien“ verweist vor allem auf die technische Dimension der medialen Anwendungen und Plattformen; die Verbindung mit sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen entsteht dann durch die Nutzung.

  2. Für eine Klassifizierung von Partizipation Norbert Kersting, „Online participation: From ›invited‹ to ›invented‹ spaces”, International Journal of Electronic Governance 6 (2013), 260-270.

  3. Dieter Rucht, „The Strength of Weak Identities,” Forschungsjournal Soziale Bewegungen 4 (2017), 73-84.

  4. Sigrid Baringhorst, „Auswirkungen der Digitalisierung auf soziale Bewegungen - Annahmen, Befunde und Desiderata der Forschung,“ in Politikwissenschaft und die digitale Gesellschaft, hrsg. von Jeanette Hofmann, Norbert Kersting, Claudia Ritzi und Wolf J. Schünemann, 151-170 (Bielefeld: transcript, 2019).

  5. Aaron Delwiche und Jennifer J. Henderson, The Participatory Cultures Handbook. (New York and Oxon: Routledge, 2013).

  6. Howard Rheingold, The Virtual Community: Homesteading on the Electronic Frontier (Reading, MA: Addison-Wesley, 1993).

  7. Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter I. (Wiesbaden: VS Verlag 2004).

  8. für frauen*politische Netzwerke und Akteur*innen vgl. Christina Schachtner und Gabriele Winker, Virtuelle Räume – neue Öffentlichkeiten. Frauennetze im Internet. (Frankfurt a.M.: Campus 2015).

  9. danah boyd, “Social Network Sites as Networked Publics: Affordances, Dynamics, and Implications”, in Networked Self: Identity, Community, and Culture on Social Network Sites, hrsg. von Zizi Papacharissi, (New York, London: Routledge 2010), 39-58, 39.

  10. Ricarda Drüeke, „Digitale Öffentlichkeiten und feministische Protestkulturen“, in Handbuch Medien und Geschlecht, hrsg. von Johanna Dorer, Brigitte Geiger, Brigitte Hipfl und Viktorija Ratković (Springer VS, Wiesbaden, 2023), 629-640; Rachel Loney-Howes, Kaitlynn Mendes, Diana Fernández Romero, Bianca Fileborn und Sonia Núñez Puente, “Digital footprints of #MeToo,” Feminist Media Studies 22 (2022), 1345-1362.

  11. Maik Fielitz und Daniel Staemmler, „Hashtags, Tweets, Protest? Varianten des digitalen Aktivismus,“ Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 33 (2015): 425-441. 420.

  12. Mojca Pajnik und Birgit Sauer, Populism and the Web. Communicative Practices of Parties and Movements in Europe. (London: Routledge 2018).

  13. Aleksandra Urman und Stefan Katz, „What they do in the shadows: Examining the far-right networks on Telegram”. Information, Communication & Society 25 (2022), 904-923.

  14. Sigrid Baringhorst, „Internet und Protest. Zum Wandel von Organisationsformen und Handlungsrepertoires – Ein Überblick“, in Internet und Partizipation. Bottom-up oder Top-down? Politische Beteiligungsmöglichkeiten im Internet, hrsg. von Kathrin Voss, 89-113 (Wiesbaden: Springer VS, 2014), 105.

  15. Lya Cuéllar, „Klicktivismus: Reichweitenstark aber unreflektiert,“ 26.10.2017,Externer Link: www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/258645/klicktivismus-reichweitenstark-aber-unreflektiert.

  16. Dagmar Hoffmann, „What’s up? Politische Partizipation und politisches Engagement in Zeiten der Digitalisierung von Medien“, in Soziale und politische Teilhabe im Netz? E-Partizipation als Herausforderung, hrsg. von Lars Gräße und Friedrich Hagedorn, 89-104 (Düsseldorf: kopäd, 2015).

  17. Donatella della Porta, Multiple belongings, tolerant Identities and the Construction of Another Politics. (Rowman & Littlefield: Lanham, 2005).

  18. Lance W. Bennett und Alexandra Segerberg, „The Logic of Connective Action,” Information, Communication & Society 15 (2012): 739-768, 743.

  19. Axel Bruns, Blogs, Wikipedia, Second Life, and beyond: From production to produsage. (New York: Peter Lang, 2008).

  20. Sigrid Baringhorst, „Auswirkungen der Digitalisierung auf soziale Bewegungen - Annahmen, Befunde und Desiderata der Forschung,“ in Politikwissenschaft und die digitale Gesellschaft, hrsg. von Jeanette Hofmann, Norbert Kersting, Claudia Ritzi und Wolf J. Schünemann, 151-170 (Bielefeld: transcript, 2019).

  21. Lisa Villioth, Protest-Aktivist*innen der Umweltschutz-Bewegung im Netz und auf der Straße. Voraussetzungen und Motive für Partizipation. (Wiesbaden: Springer VS 2023).

  22. Michael S. Daubs, „Integration durch Diversifikation. Die Mediatisierung sozialer Bewegungen vom „Kampf von Seattle“ bis Occupy,“ in Zwischen Integration und Diversifikation. Medien und gesellschaftlicher Zusammenhalt im digitalen Zeitalter, hrsg. von Olaf Jandura, Manuel Wendelin, Marian Adolf und Jeffrey Wimmer, 121-138 (Wiesbaden: VS, 2017).

  23. Lisa Steiner und Stine Eckert, “The democratic potential of feminist Twitter,” in Race and Gender in Electronic Media: Content, Context, Culture, hrsg. von Rebecca A. Lind, 213-230 (New York: Routledge, 2017), 214.

  24. Anastasia Kavada, “Social Movements and Political Agency in the Digital Age: A Communication Approach,” Media and Communication 4 (2016): 8-12.

  25. Dieter Rucht und Simon Teune, „Einleitung: Das Protestgeschehen in der Bundesrepublik seit den 1980er Jahren zwischen Kontinuität und Wandel,“ in Protest in Bewegung? Zum Wandel von Bedingungen, Formen und Effekten politischen Protests, hrsg. von Priska Daphi, Nicole Deitelhoff, Dieter Rucht und Simon Teune, 9-33 (Baden-Baden: Nomos, 2017).

  26. Ulrich Dolata, „Soziale Bewegungen: Die soziotechnische Konstitution kollektiven Handelns,“ in Kollektivität und Macht im Internet, hrsg. von Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape, 39-69 (Wiesbaden: Springer, 2017).

  27. Philipp Lorenz-Spreen, Lisa Oswald, Stephan Lewandowsky und Ralph Hertwig, “A systematic review of worldwide causal and correlational evidence on digital media and democracy”. Nature Human Behaviour 7 (2023), 74-101.

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Dr. Ricarda Drüeke ist Assoziierte Professorin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Sie forscht und lehrt zu digitalen Medien und Aktivismus und Öffentlichkeitstheorien.